marktforschung.de: Die provokante Kolumne „Kultiviert Euch!“ von Jens Krüger fordert mehr Kreativität und Kultur als Ausweg aus den Herausforderungen des KI-Zeitalters – und stellt Bürokratie und methodische Standards ins Abseits. Doch ist das wirklich zielführend und ausreichend? Christian Thunig, Vorstand im BVM, mit einer Replik auf Jens Krüger.
Die provokante Kolumne „Kultiviert Euch!“ von Jens Krüger fordert mehr Kreativität und Kultur als Ausweg aus den Herausforderungen des KI-Zeitalters – und stellt Bürokratie und methodische Standards ins Abseits. Angemerkt sei hier, dass BVM und ADM keine Richtlinie zur KI, sondern zur Veröffentlichung von Marktforschungsstudien in Medien veröffentlicht haben. Aber dennoch folgen wir einmal dem reizvollen Leitgedanken: Innovationskraft durch Freiheit, Inspiration und Personalisierung. Doch wird die Marktforschung damit wirklich zukunftsfähig? Ein Plädoyer für einen nüchternen Blick auf die Grundlagen der Branche: verlässliche Daten durch klare Richtlinien und Qualitätsstandards.
Kreativität ist kein Ersatz für Verlässlichkeit
Zweifellos: Kreativität, Mut zum Unbekannten und kulturelle Reflexion sind wichtige Ressourcen, um neue Methoden zu entwickeln, Märkte zu erschließen und relevante Forschung zu betreiben. Doch sie ersetzen nicht, sondern ergänzen die methodische Sorgfaltspflicht der Branche. Marktforschung ist Dienstleistungswissenschaft – ihre zentrale Währung ist Vertrauen. Dieses Vertrauen speist sich weder aus überraschenden Kampagnen noch aus kultureller Vielfalt allein, sondern aus Reliabilität, Nachvollziehbarkeit und Datenqualität.
Der Kern der Marktforschung bleibt methodisch
Inmitten des gegenwärtigen KI-Hypes braucht es eine Rückbesinnung auf die Säulen der empirischen Sozial- und Marktforschung: Standards, die sicherstellen, dass Daten nicht nur spannend, sondern belastbar und überprüfbar sind. Richtlinien, Normen und Qualitätsstandards wurden über Jahrzehnte entwickelt – nicht als bürokratisches Korsett, sondern um Vergleichbarkeit, Reproduzierbarkeit und somit Handlungsfähigkeit für Unternehmen und Gesellschaft zu ermöglichen.
Neue Herausforderungen durch KI – alte Pflicht zur Validität
Die Digitalisierung und KI haben zweifellos neue methodische Möglichkeiten eröffnet – aber auch neue Risiken: Intransparente Blackbox-Modelle, Datenkolonialismus und Qualitätsverluste drohen, wenn Algorithmen unreflektiert auf fehlerhafte, verzerrte oder nicht dokumentierte Daten zurückgreifen. Auftraggebende Kunden spüren das: Wer heute KI-Tools präsentiert, sieht sich sofort mit der Frage nach Datenherkunft, Trainingsmodus und Güte der Ergebnisse konfrontiert. Zu Recht: Die berühmte Blackbox ist keine Metapher mehr, sondern derzeit noch ein Risikofaktor.
Warum „langweilige“ Richtlinien essenziell sind
Eine funktionierende Marktforschungsbranche braucht Spielregeln – klar definiert, regelmäßig überprüft, transparent dargestellt: Wer ist die Zielgruppe? Welche Designs kommen zum Einsatz? Wie werden Daten erhoben, gespeichert und weiterverarbeitet? Wie wird gewährleistet, dass Ergebnisse generalisierbar und repräsentativ sind? Diese methodischen Prinzipien sind keinesfalls Selbstzweck. Sie bieten Unternehmen, politischen Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit die Grundlage, forschungsgestützt und faktenbasiert zu handeln.
Viel belächelt, aber selten gewürdigt: Die deutsche Marktforschung genießt dabei international einen besonderen Ruf – gerade weil sie Wert auf Standards, Nachvollziehbarkeit und Prüfprozesse legt. Diese Form der Selbstdisziplin ist kein kultureller Makel, sondern ein Wettbewerbsvorteil.
„Wo Kreativität und methodische Klarheit Hand in Hand gehen, entstehen Innovationen mit Substanz.“
Marktforschung in der globalisierten Datenwelt: Widerstand gegen Datenkolonialismus
Gleichzeitig wird die gesellschaftliche und ökonomische Abhängigkeit von US-amerikanischen Datenpools und proprietären KI-Modellen zu einer Gefahr: Ohne eigene Standards, transparente Datenproduktion und ein kritisches Bewusstsein läuft Europa Gefahr, Entscheidungen auf Basis fremder, intransparenter oder unausgewogener Datensätze zu treffen. Das wäre – so zugespitzt wie realistisch – der eigentliche Untergang evidenzbasierter Recherche und Analyse.
Fazit: Es geht um mehr als „Kultur“ – es geht um Verantwortung
Ja, Kreativität ist wichtig. Aber Betreuung von Marken, Entwicklung von Innovationen, Steuerung großer Budgets – all das braucht eine Grundbasis von objektiven, überprüfbaren und verlässlichen Daten. Egal ob klassische Studie oder KI-gestützte Analyse: Wer auf methodische Standards verzichtet, verspielt das zentrale Versprechen der Marktforschung und setzt Vertrauen, Reputation und letztlich den gesellschaftlichen Wert empirischer Forschung aufs Spiel.
„Deshalb: Lassen wir uns inspirieren – aber vergessen wir nie die eigentliche Verantwortung. Die Zukunft der Marktforschung entscheidet sich nicht allein im kreativen Akt, sondern in der Verbindlichkeit und Qualität unserer Daten.“
Über die Person
Christian Thunig ist Managing Partner bei der INNOFACT AG. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Markenführung und Medien. Zuvor war der diplomierte Kaufmann 17 Jahre bei der Verlagsgruppe Handelsblatt. Er ist im Herausgeberbeirat der Plattform marktforschung.de und im Vorstand des BVM, des Berufsverbands Deutscher Markt und Sozialforscher e.V. Er ist leidenschaftlicher Musiker und spielt Schlagzeug in mehreren Bands.
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